Es ist Spätfrühling in der Ago Bay, Japan. Die Kirschblüte ist längst vorbei, aber die Luft ist immer noch ein wenig kühl. Die Ago Bay wird durch Landzungen der Halbinsel Ise südwestlich von Tokio und nordöstlich von Osaka, gebildet. Sie ist ein winziger, geschützter Teil des weiten Pazifischen Ozeans.
Die Ago Bay schwimmt im Nachmittagslicht. In einem Arbeitsboot aus Fiberglas fahren wir an ihrem Ufer entlang. Kaiei Kakuta, mein Freund, Fremdenführer und bedeutender Perlenzüchter steht im Bug, als wir in eine Bucht einbiegen. Hier gibt es eine kleine Perlenfarm: ein Floss, eine Mole und zwei langgestreckte, flache Gebäude mit quadratischen Fenstern. Der Dieselmotor tuckert im Leerlauf. Kaiei dreht sich zu mir und erklärt: Hier hat alles angefangen. Dies ist Mikimotos erste Perlenfarm. Anfangs dieses Jahrhunderts machten Kokichi Mikimoto, ein ehemaliger Nudelverkäufer, Tatsuhei Mise, ein Tischler, und Tokichi Nishikawa, ein Biologe, jeder unabhängig von den anderen, eine bahnbrechende Entdeckung: Sie lösten das Rätsel der Perlenauster.
Sie entdeckten, wie Perlmutt - das Material, aus dem die Perle besteht - sich im Innern der Auster um einen Fremdkörper bildet und diesen nach und nach vollkommen umschliesst. Der Schlüssel zum Geheimnis ist der Mantel, jene fleischige Haut, die an der Innenseite der Muschelschale anliegt und diese aufbaut. Das Perlmutt der Perle entsteht durch ein Stückchen Mantelgewebe, das mit dem Kern in die lebende Auster eingesetzt wird.
Diese Prozedur erfordert viel Geschick und Präzision. Ein ausgebildeter Chirurg braucht der Operateur aber nicht zu sein. Zunächst wird eine Spender-Auster geopfert, um ihren Mantel zu gewinnen. Der obere Teil wird herausgeschnitten und dann vorsichtig der schwarze Rand abgetrennt. Anschliessend wird der übriggebliebene helle, graubeigefarbige Streifen in winzige Partikel geteilt.
Für die Operation wird die Auster sehr behutsam geöffnet - eben weit genug, damit der Operateur ein Kügelchen (das von der Schale einer amerikanischen Pigtoe-Muschel im Missisippi stammt), auch Kern oder Nukleus genannt, in einer Tasche im inneren Körper der Muschel deponieren kann. Das winzige Stückchen Mantel wird direkt daneben gelegt. Dann wird die Auster behutsam ins Wasser zurückgebracht, wo das Stückchen Mantel wächst und den Kern umschliesst, es bildet den Perlensack. Dieser lagert Perlmutt in feinen Schichten auf dem Kern ab, die Perle entsteht. Ganz einfach. Und hier, in diesem Winkel der Ago Bay, entstand die erste Perlenfarm nach dieser grundlegenden Idee, Vorbild für die Perlenzucht in aller Welt, bis in unsere Zeit.
So weit ich auf die Ago Bay hinaussehen konnte, sah ich die Bojen der Perlenfarmen Millionen von Austern schliefen friedlich unter der Wasseroberfläche, ernährten sich vom Plankton des Pazifiks und produzierten im verborgenen Perlen.A
Die meisten Zuchtperlen, die Colliers mit ihrem weichen Schimmer, die Millionen Frauen schmücken, kommen aus Japan. Viele davon aus der Ago Bay. Sie sind das Produkt der Pinctada fucata, der Akoya Perlen Japan Auster.
Wie alle anderen verlangen auch die Akoya-Austern absolut reines Wasser. Sie vertragen weder Verschmutzungen noch zu wenig Sauerstoff oder übermässig viel Schlamm von Berghängen oder Flüssen. Seltsamerweise brauchen Sie aber eine gewisse Menge Süsswasser. Aufgabe der Perlenfarmer ist es, die Austern glücklich zu machen. Das ist eigentlich nicht schwer. Man holt sich die Auster, öffnet die Auster, pflanzt den Kern in die Auster, schliesst die Auster, wartet ab und voilà; eine Perle!
Ein Problem gibt es allerdings dabei: Die Auster ist ein Lebewesen des Meeres. Sie hat Feinde, es kann zu Krankheiten kommen, zu Stürmen und selbst ganz einfach zu einer Abstossung des Kerns. Bei der Perlenzucht muss man behutsam einen Schritt nach dem anderen vornehmen. Mit äusserster Präzision. Aber so hervorragend die Japaner auch darin sind - immer wieder verschwören sich das Meer und die Austern selbst gegen die Perlenfarmer. Die Ago Bay ist längst kein einsamer, unbewohnter Ort mehr. Sie ist zu einer Touristen-Attraktion geworden. zu einem Ort mit eleganten Hotels, Golfplätzen und Yachthäfen. Viele Perlenfarmer sind nach Kyushu umgezogen, auf Japans südliche Hauptinsel.
Auf der Südspitze von Kyushu liegt Amakusa Island. Die Insel war in einen dunstiggrauen Nebel gehüllt, ein leichter Regen fiel - ein Ort, wie geschaffen für die Perlenzucht.
Ich erlebte die künstliche Geburt einer Auster. Akoya-Austern werden nicht mehr mühsam gesammelt, und man taucht auch nicht mehr nach ihnen. Auch die früher übliche Methode, zur Laichzeit Zweige ins Meer zu hängen, an denen sich die Larven festsetzten, wird nur noch selten angewandt. Heutzutage werden sie künstlich in einem grossen Glasbehälter geboren. Von ausgewählten grossen und kräftigen Austern werden Eier und Samen entnommen und in dem Glasbehälter vermischt. Anschliessend wird der Inhalt in grössere Tanks umgefüllt. Innerhalb weniger Stunden entstehen Larven, und nach etwa zwei Wochen setzen sich die frei im Wasser schwimmenden Larven an dünnen Kunstofflamellen fest. Sie werden mit einer Suppe aus einzelligen Algen gefüttert und wachsen schnell. Nach vier Wochen haben sie etwa die Grösse eines Stecknadelkopfes erreicht. Nach drei Monaten kommen die kleinen Austernkinder aus der Brutanstalt in die Perlenfarm. Jetzt werden sie in die Panels übertragen - zwischen Drahtrahmen gespannte Netze - die unter den Flössen der Perlenfarm hängen. Nach weiteren sechs Monaten werden die jungen Austern von den Panels in runde Drahtkörbe versetzt. Die Aufzucht der Austern bis zur Geschlechtsreife, dem Zeitpunkt der Operation, dauert zwei bis drei Jahre.
Die Mittagssonne scheint durch die Flösse. Ich schwimme in einem Park herabhängender Körbe. An den Körben, unter dem Floss, überall wuchern Algen. Es ist, als schwimme ich in einer schwerelosen, schwebenden Ausstellung von Calder-Mobiles, einem Museum voll grünem Nebel. In den langestreckten Häusern der Perlenfarm werden die Austern operiert. Die davor ankernden Flösse sind wie Hospitäler, eine Seite Narkoseraum, die andere Seite Erholungsraum. Sorgfältige Vorbereitung und Pflege vor und nach der Operation sind zum guten Gelingen ausschlaggebend. Zur Narkose werden die Austern in tieferes Wasser abgesenkt. Durch die Dunkelheit, die niedrige Temperatur und einen geringeren Gehalt an Sauerstoff und Plankton reduzieren sie ihr Aktivität und fallen in einen Dämmerschlaf. Die Austern (interessant ist übrigens, dass auf einer Farm, die über eine Million Austern besitzt, sämtliche von nur 50 Elternpaaren abstammen) sind jetzt zur Operation bereit. An die Oberfläche heraufgeholt, öffnen sie ihr Schalen, und behutsam wird ein Keil zwischen die Lippen der Schalen gesetzt. In Gruppen von zwei Dutzend werden sie in offenen Körben in den Operationssaal gebracht.
Die Operation selbst dauert nur wenige Sekunden. Nur ein kleiner Schnitt ist erforderlich, um Kern und Mantelstück einzusetzen. Gleich darauf werden die Austern in die dämmerige Welt unter dem Perlenfluss zurückgebracht. In mehrwöchiger Ruhepause erholen sie sich dort von der Operation. Dann werden die Austern in Panels in den weiter ausserhalb liegenden Teil der Perlenfarm gebracht - zu den Longlines.
Die auf dem Meeresgrund verankerten Longlines höngen an Bojen wie Unterwasser-Wäscheleinen. Die flachen Panels - jedes enthält bis zu einem Dutzend Austern - hängen an den Leinen und schwingen mit der Strömung. Sie werden zu regelrechten Algenkollektoren, und alles mögliche Kleingetier des Meeres ist wild darauf, die armen, wehrlosen Austern zu attackieren. Schwämme beginnen auf ihnen zu wuchern, Würmer versuchen sich durch die Schale zu bohren, Krustentiere nehmen sie in ihren Griff, Seesterne klammern sich an sie. Also muss die Auster immer wieder gereinigt werden, oder sie stirbt.
Die Reinigungsarbeiten werden auf unterschiedliche Art ausgeführt. Ein Arbeitsboot mit einer Art Restaurant-Spülmaschine an Bord arbeitet sich an den Longlines entlang. Zwei Mann ziehen die Panels hoch, legen sie in die Spülmaschine, und wenn sie herauskommen, sind sie von Algen befreit. Aber die Schwämme und das andere Meeresgetier sind immer noch da und müssen abgeschlagen oder abgeschliffen werden. Das geschieht auf einem überdachten Arbeitsfloss. Dutzende von Farmarbeitern gehen dort mit elektrischen Schleifmaschinen, Messern und Meisseln ans Werk. Die Arbeit ist mühsam und zermürbend. Schliesslich werden die Panels noch in Süsswasser getaucht. Daran geht das restliche Meeresgetier zugrunde.
Im Dämmerlicht des grünen Wassers von Amakusa Island schwingen die Panels mit den Gezeiten und der Strömung. Oben erstrecken sich im Schutz der grünen Hänge die Bojen in feinen, schnurgeraden Linien meilenweit über das spiegelglatte Wasser. Nur die Boote mit den Farmarbeitern bewegen sich in diesem matten weichen Licht.
Es ist eine Welt der Zahlen und des Timing. Ein bis zwei Jahre lang wachsen die Perlen in ihren Muscheln. Jeder Operateur führt Buch über seine Austern. Besessen verfolgt er sein Ergebnis. Wird die Auster den Kern abstossen? Wird die Perle perfekt ausfallen? Immer wieder Fragen...
Ich sehe einer Probeernte zu. Ein um die andere Auster werden geöffnet und die Perlen entnommen. Wie ein kleines Wunder zieht jede Perle das gesamte Licht vom Himmel auf sich herab, komprimiert es und wirft es schimmernd mit einer fast magischen Kraft zurück. Das Leben der Perle beginnt - und die Perle geht nun auf die Reise.
Der Veredelungsbetrieb in Ise City ist ein Gebäude mit dunklen Räumen, die durch grosse Fenster und Neonleuchten erhellt sind. Zuerst werden die Perlen mit Salz und Wasser in Holztrommeln gereinigt, dann nach Grösse, Form, Lüster, Farbe und Oberfläche sortiert. Durch Stahlsiebe fallen sie in Plastikschalen, randgefüllt mit Perlen, stehen herum. Aufeinander gehäuft fahren die Perlen fort, ihr magisches Licht zu verstrahlen.
In einem weiteren Raum werden die Perlen gebohrt. Behutsam setzen die Arbeiter sie in die Bohrmaschinen. Die Bohrer sehen aus wie grosse Nähnadeln. Dann werden die Perlen sortiert und zu Colliers zusammengestellt. Andere Perlen werden für Ohrringe, Ringe, Broschen und weiteren Schmuck nur halb gebohrt. Es herrscht tiefe Stille - bis auf das Summen der Bohrmaschinen und kostbarste, klickende Geräusch aufeinander fallenden Perlen, es klingt wie Wellen, die sich an einem Kiesstrand brechen.
Die sortierten Perlen werden auf ein gerilltes, mit weichem Leder überzogenes Tablett gelegt. Mit Synthetik-Faden, der wie Seide aussieht, aber so stark wie Stahldraht ist, werden sie aufgefädelt. Dann werden die Stränge zusammengebunden, dies nennt man in der Fachsprache Lots.